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„Die Mischung macht’s“ in Herdecke: „Quartier Ruhr-Aue. Arbeiten, Wohnen und Leben am Fluss“

29. September 2017

Das Quartier Ruhr-Aue: 11 Hektar Fläche für Handel, Dienstleistung und Gastronomie, aber auch Wohnen und Leben am Wasser. Luftbild: Hubert Harst, Herdecke

Im Seniorenheim singt eine Oma ein zartes Liedchen, man hört es durchs offene Fenster. Auf der Ruhr-Terrasse im Café Extrablatt macht ein Radfahrer Pause und löffelt genüsslich sein Eis. Obendrüber dreht irgendwo ein Zahnbohrer. Und die italienische Friseurin an der Ecke steht in der Salontür und regt sich gerade lautstark auf: „Brutto stupido!“

Mehr Leben geht gerade nicht.

Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Die Mischung macht’s – ein neues Gefühl von Stadt“ des BDA NRW hat der BDA Hagen-Ennepe-Mark ins Quartier Ruhr-Aue eingeladen, ein neu entwickeltes Terrain in Herdecke zwischen Fluss (unten) und Innenstadt (oben). Hier wurde in der Tat kräftig gemixt: Kunden finden ebenerdig und autogerecht großflächigen Einzelhandel, für den in der kleinen City nie Platz war. Im Erdgeschoss lockt Gastronomie, eine Etage höher haben Dienstleister moderne Räume und Praxen, ganz oben wird sogar gewohnt.

Daniel Matißik, Leiter des Bau- und Planungsamtes der Stadt Herdecke, weiß heute – nach mehr als zwölf Jahren Entwicklung, Verhandlung, Karstadt-Aus, Hertie-Pleite, Besitzerwechsel, Börsencrash, Bürgerbeteiligung, Stress, Streit, Krise und immer wieder Käufersuche  – auch nicht mehr so genau, „wie wir das alles geschafft haben.“

Planungsamtsleiter Daniel Matißik (m.) zeigt Architektur Interessierten die Blickachsen in der Siedlung, vorne BDA-Vorsitzender Miroslav Sramek.

Der Reihe nach: Nach mehr als zwei Jahrhunderten erfolgreicher Tuchindustrie war 1966 Schluss mit der Produktion an der Ruhr. Die Heinrich Habig AG wurde liquidiert, 1500 Menschen standen auf der Straße, 16 Hektar Betriebsgelände lagen brach. Über familiäre Kontakte übernahm schließlich die in Oelde ansässige Westfalia Separator AG das Gelände und baute hier ein völlig neues Melktechnik-Produktions-Programm auf. Auf den Wiesen zur Ruhr weideten „Test“-Kühe. Das Gelände war komplett eingezäunt und abgesperrt. „Es gab eigentlich nur Hinterhofwege zum Wasser“, erinnert sich Matißik. Als es die Westfalia-Surge-Gruppe an den Standort Bönen im Kreis Unna zog, lag das Werk in Herdecke still. Das war 2005. Die Besitzer, aber vor allem die Stadt Herdecke, saßen auf 11 Hektar ungenutzter Fläche in bester Lage.

11 Hektar Gewerbefläche mit nicht mehr genutzten Werkshallen als Brache am Fluss: Chance und Herausforderung zugleich. Foto: Stadt Herdecke

Ein Glücksfall, aber gleichzeitig auch große Herausforderung für eine eher kleine Stadt wie Herdecke. Mit aktuell 24 000 Einwohnern und überproportional hoher Eigenheimdichte in zum Teil bergiger Lage, war schnell klar, dass barrierefreies Wohnen eine Option für das attraktive Gelände am Fluss sein könnte. Aber auch großflächiger Handel fehlte in dem Städtchen. Die meisten Geschäfte, so Matißik, hätten um die 80 Quadratmeter Verkaufsfläche: Inhaber geführter Einzelhandel eben. Fest stand: Neuer Handel konnte nur ergänzen, die Innenstadt durfte nicht bluten. Und die einmalige Chance, die Stadt endlich an den Fluß zu holen – über sinnvolle Wegebeziehungen, aber auch geplante Sichtachsen, mussten die Planer ebenfalls nutzen. Schon 2006 fand eine international besetzte Entwurfswerkstatt statt, und ein erster städtebaulicher Plan lag auf dem Tisch. Noch mehrmals änderten sich die Ideen, ebenso die Besitzverhältnisse.

Ruhr-Aue: Handel, Dienstleistung, Gastronomie verteilen sich auf drei Hektar. Foto: Klaus Görzel / Westfalenpost

Das geschäftige Treiben im Quartier Ruhr-Aue gibt den Planern heute Recht, im direkt angrenzenden rund vier Hektar großen Wohnquartier drehen sich noch die Kräne: Rund 210 neue Wohneinheiten entstehen – Komfort-Eigentums- und Mietwohnungen auf drei bis vier Geschossen, kleine Reihenhäuser für junge Familien, größere Einfamilienhäuser am Quartiersrand. Groß vermarktet werden musste die neue Siedlung nicht, der Run auf das Wohnen am Wasser ist ungebrochen. Allerdings müssen Käufer auch ein dickes Portemonnaie mitbringen: Bis zu 3 500 Euro pro Quadratmeter werden hier am Ufer der Ruhr aufgerufen.

Die Anbindung an die Altstadt ist gelungen, und die City wurde parallel auch noch aufgemöbelt und bekam eine neue Piazza. Der größte Gewinn aber ist der riesige Naturraum, die Ruhraue, die öffentlichen Wege und Plätze am Wasser, die den Menschen zurückgegeben wurden. Da ist jeder Euro öffentliches Geld gut angelegt.

So eine große Brache zu entwickeln, sei eine Mammutaufgabe, sagt BDA-Vorsitzender Miroslav Sramek, der im Quartier Ruhr-Aue ein Seniorenzentrum entwarf. Wie werden Städte entwickelt? Wie funktioniert Stadt heute? Was sind wichtige Stadträume? Das bleiben spannende Fragen und immer wieder neue Herausforderungen. Stadtplaner müssen in der oft schwierigen Dreiecksbeziehung Stadt, Besitzer, Investor aber auch große Nehmer-Qualitäten mitbringen. Matißik weiß: „Stadtplanung ist leider kein Wunschkonzert.“ (Text: Simone Melenk)